August Alexander
Klengel (1783-1852)
120 Kanons & Fugen

Die Erstaufnahme eines Meisterwerks

Ein Mythos schon Jahre vor der Veröffentlichung:

Bis in das 21. Jahrhundert waren Klengels Kanons und Fugen ein ebenso oft bestauntes wie zugleich erstaunlich "unerhört" gebliebenes musikalisches Meisterwerk. Genau diese Ahnung, dass nach jahrzehhnte langer Arbeit und verfeinerung durch den Komponisten hier ein Meisterwerk zu erwarten ist, mit dem nur sehr wenige zuvor Bekanntschaft machen konnten, spricht bereits aus den Rezensionen zum Erscheinen der ersten 24 Kanons "Les Avantcoureurs" 1841, den " Avantcoureurs":

"Ist aber dieser Vorläufer ('Avantcoureurs') schon der lebhaften Teilnahme aller (...) Musikkenner wert, ... wie ausgezeichnet muss dann das Hauptwerk sein, auf das wir noch zu hoffen haben. (...) Möge es recht bald nachfolgen; es hat uns schon lange genug warten lassen." (Amz Nr.43 1841 S.396)

"Selten ist wohl einem musikalischen Werke, wie dem hier angezeigten vor seinem öffentlichen Erscheinen ein so viel versprechender Ruf vorangegangen, und wohl eben so selten ist dieser durch die endliche Veröffentlichung des Werkes in so hohem Maße gerechtfertigt worden." (Siegfried Dehn in Cäcilia XXI 1842 S.50)

"Fast alle bedeutenden Musiker der letztvergangenen Decennien kannten und schätzten das Werk und erwarteten sehnlich dessen Herausgabe."

(Mortz Hauptmann im Vorwort des Erstdruckes)

Die hier erstmals präsentierte Gesamtaufnmahme soll der vom Komponisten geeleistet Arbeit endlich zu dem Gehör verhelfen das es verdient.

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Familie und Jugend:

Kurzbiografie

August Stephan Alexander Klengel wuchs als Sohn des Landschaftsmalers Johann Christian Klengel (1751-1824 s.o.)und seiner Frau Rebecca geb. Wollrab (1759-1818 - sihe Abb.) in Dresden auf. Als Akademieprofessor gehörte sein Vater zu den angesehenen Mitgliedern des kulturellen Lebens in Dresden. So gehörte auch Carl Phillip Emanuel Bachs Sohn "Johann Sebastian Bach d.J." zu den Malereistudenten Christian Klengels. Ganz offenbar legte Christian Klengel aber auch viel wert Wert auf die beste Ausbildung der Talente seines eigenen Sohnes. Schon im Unterricht des weitgereisten Pianisten und Klavierpädagogen Johann Peter Milchmeyer (1750–1813) entwickelte sich Alexander Klengel in jungen Jahren zu einem respektablen und in Dresden bereits wertgeschätzten Pianisten. Die weit reichenden Kontakte seines Vaters waren sicher hilfreich, um Klengel bereits früh alle Möglichkeiten der Dresdner Gesellschaft zu erschließen.

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Clementis Schüler

Als Clementi 1803 ihn bei einem Besuch in dieser Dresdener Gesellschaft kennenlernte, bot er dem zwanzigjährigen Klengel an, Clementi als Schüler auf seinen Konzertreisen durch Europa zu begleiten und, da Clementi sich selbst vom Konzertieren zurückgezogen hatte, an seiner statt Clementis Kompositionen vorzutragen. Wie John Field vor ihm bereist Klengel daraufhin mit Clementi Prag und Wien, wo er Kalkbrenner und Haydn begegnete. Weitere teils längere Aufenthalte Klengels waren Petersburg, Paris, und IItalien und London. Nach 11 Jahren kehrt Klengel schließlich ganz nach Dresden zurück und wird dort unbeachtet seiner protestantischen Konfession bis zu seiner Pensionierung als gut bezahlter Hoforganist des katholischen sächsischen Hofes angestellt. In den folgenden Jahren zieht er sich immer mehr vom öffentlichen Leben zurück. Noch 1841 wird er in der Fachpresse mit Ludwig Berger und John Field zu den "drei Hauptschülern" Clementis (AmZ 1841 S.393) gezählt.

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Vom brillanten Pianisten zum Meister des Kontrapunktes

Schon an früheren Kompositionen, Sonaten, Rondos Variationen, Konzerte wird wiederholt Klengels auch gegenüber Clementi erkennbare besondere Begabung zum polyphonen Stil hervorgehoben. (Amz-1816. S.140). Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verliert er aber offenbar zunehmend das Interesse am modischen Wandel des Musikgeschmacks und widmete sich ganz der Komposition seines Hauptwerkes den 120 Kanons und Fugen. Schon als wichtiger Clementischüler und sächsischer Hoforganist genoß er in der musikalischen Welt nicht nur ein hohes Ansehen, sondern pflegte auch vielfältige Kontakte mit vielen Größen der Musikwelt, denen er wiederholt Einblick in seine Arbeit an den Kanons und Fugen gab. Bereits 1816 berichtet etwa der Clementi-Schüler Moscheles von meisterlichen "kanonischen Etüden", die er bei einem Besuch Klengels gehört habe. 1819 schließlich arbeitet Klengel für den Verleger Härtel an einer neuen Ausgabe das des Wohltemperierten Klaviers, weist aber jede Bezahlung dafür kategorisch zurück, da ihm die Begeisterung für Bachs Musik Lohn genug gewesen sei.

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Seelenverwandter Chopin

Auch der junge Chopin suchte bereits 1829 den Kontakt Klengel mit einem Empfehlungsschreiben des Wiener Musikers Würfel. Wie aus einem Brief Chopins an seine Angehörigen (vom 26. 8. 1829) bekannt ist, trifft Klengel den gerade 19 jährigen Chopin das erste Mal dann tatsächlich eher zufällig in Prag beim Geiger Pixis (1786-1842). Bereits damals spielt Klengel ihm über zwei Stunden lang aus seinen Fugen vor, ohne Chopin selbst überhaupt auch nur einmal an das Klavier zu lassen. Als Chopin ein Jahr später Klengel in Dresden erneut einen Besuch abstattet, ist Chopin selbst zwar trotz intensiver Bemühungen nicht zu bewegen, in Dresden öffentlich aufzutreten, lässt es sich aber nicht nehmen, Klengel privat aus seinen Klavierkonzerten und anderen Stücken vorzuspielen. Er berichtet über diesen Besuch in Dresden: "Außer meinem Klengel, vor dem ich mich morgen werde produzieren müssen, gibt es hier nichts beachtenswertes. Ich unterhalte mich mit ihm gern, weil man von ihm etwas lernen kann." (Brief Chopins an seine Angeh. v. 14. 11. 1830.). Erst jetzt nachdem Klengel Chopin spielen hörte, scheint auch Klengel Gefallen an Chopin gefunden zu haben. Er zeigt Respekt vor Chopins Virtuosität und fühlt sich besonders von Chopins Anschlag an seinen Clementi-Mitschüler John Field erinnert. Auch vom darauf folgenden Gegenbesuch Klengels berichtet der zwanzigjährige Chopin wenig später seinen Angehörigen wie von einem Seelenverwandten, er habe Klengel "tatsächlich so lieb gewonnen, als wenn ich ihn seit dreißig Jahren kennen würde."(Brief Chopins an seine Angeh. v. 21. 11. 1830) Wie Klengel wird auch Chopin wenige Jahre nach seiner Begegnung mit Klengel seine Wertschätzung für das Wohltemperierten Klavier s mirt der Komposition seiner ganz eigenen hochromantischen 24 Preludes op.28 bezeugen.

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Zum Werk:

24 Kanons "Les Avantcoureur"

Es mag sein, dass August Alexander Klengels zuweilen unwilligen Reaktionen gegen einige Musik und Musiker seiner Tage ihn manchem als konservativen Eigenbrödler erscheinen ließen. Es wäre aber völlig falsch, als rückwärtsgewandt philiströs anzusehen, dass sich Klengel in der Hochromantik entscheidet, fünfundzwanzig Jahre an einem unübertroffenen Meisterwerk kontrapunktischer Musik zu arbeiten. Tatsächlich löst er sich damit selbst nur noch radikaler von den immer oberflächlicher werdenden klassischen Kadenzklischees und musikalischen Galanterien, mit denen er selbst noch zuvor als Clementi-Schüler erfolgreich brillieren konnte. Klengels Kontrapunkt enthält von lyrischer Poesie bis zur leidenschaftliche Virtuosität alles, was gute romantische Musik ausmacht, und ist doch zugleich gebunden in einem Tonsatz4, der an Strenge und Anspruch wiederholt selbst das Vorbild Bachs deutlich übertrifft. Klengel stellt damit einen musikalischen Anspruch auf, an dem sich nur sehr wenige Meister der Tonkunst messen lassen können. Es scheint allerdings, als wenn die Achtung, die er sich damit unter vielen seiner Zeitgenossen erworben hatte, auch eine respektvolle Scheu mit sich brachte, die spätere Interpreten offenbar bis heute davon abhielt, sich für diese einzigartige Musik einzusetzen.
Die 24 "Avantcoureurs" veröffentlichte Klengel 1841 zu einem Zeitpunkt als offenbar auch seine Kanons und Fugen schon im wesentlichen schon längst komponiert worden waren. Ausgestattet mit zusätzlichen spieltechnischen Übungen zu verschiedenen Problemen einzelner Stücke, waren sie von Anfang ausdrücklich als vorbereitende Übungen für die folgenden Kanons und Fugen präsentiert worden. Übungen sind es aber nicht nur im Sinne der zahlreichen vor allem auf Fingerfertigkeit gerichtete Spielstückchen Czernys oder Clementis. Vielmehr sind es zugleich Einübungen in den musikalischen Umgang mit anspruchsvollem Tonsatz etwa im Sinne der Bachschen Clavierübungen, deren hoher Anspruch an die spieltechnische Bewältigung nur einen Aspekt unter anderen darstellt.

Wie die Kanons der Goldbergvariationen etwa finden sich auch in diesen 24 Kanons von der "prima" bis zur "nona" alle diatonischen Intervalle im Abstand des Stimmeinsatzes verwendet. Allerdings sind Klengels Kanons in der Regel doch deutlich länger als die 32 Takte einer Goldbergvariation und zeigen neben 8 Kanons in der Umkehrung ("moto contrario") auch die wichtigsten anderen Spielformen der Kanonkomposition: in Vergrößerung ("aumentazione") und Verkleinerung ("diminuzione") der Notenlängen aber auch in der einen oder anderen Weise gespiegelt ("retrogtadoretrogrado" und "rovescio"). Klengel stellt sich mit dem großen Umfang seiner Kanons, mit deren konsequenter Zweistimmigkeit, wie mit der Verwendung aller denkbaren Spielarten des Kanons sehr hohe satztechnische und kompositorische Anforderungen, die faktisch weit über jene der traditionellen Fuge hinausgehen. Doch zurecht weist schon eine frühe Kritik darauf hin, dass bei Klengel auch der strengste Kanons musikalisch zugleich immer noch wie "frei erfundene und frei durchgeführte Charakterstücke" wirken (AmZ 1841 S.395). Schon das zweite Stück in c-moll etwa lässt seine Nähe zum romantischen Charakterstück weit deutlicher erkennen als seinen dahinter fast verborgenen aber konsequent durchgeführten Kanon. Die spieltechnischen Anforderungen dieser Stücke setzen trotz der konsequenten Zweistimmigkeit bereits ein gut ausgebildetes Klavierspiel voraus. Diese erste Gesamtaufnahme von Klengels außergewöhnlichem Meisterwerk soll endlich hörbar machen, was schon lange verdient hätte, viel mehr gehört zu werden.

24 Kanons und Fugen I.Band + II. Band

Natürlich legt die dem Wohltemperierten Klavier entsprechende systematische Verteilung der Tonarten nahe, Klengels ebenfalls zweibändiger Kanon- und Fugensammlung in die Bachnachfolge zu stellen. Man mag sich auch durch die Nähe einzelner von Klengels Themen zum Wohltemperierten Klavier darin noch bestätigt sehen. So beruht etwa das Thema der C-Dur Fuge in Klengels zweiten Band, auf der Umkehrung des Themas der C-Dur-Fuge im ersten Band des Wohltemperierten Klaviers. Aber selbst wo ein Thema ähnlich scheint, wie z.B.bei der Eb-Dur Fuge des WTK II und der Db-Fuge in Klengels zweitem Band, resultieren daraus immer noch ganz andere Fugen. Zurecht bestreitet daher Rudolf Jäger in seiner Dissertation über Klengels Kanons und Fugen (R. Jäger, A.A. Klengel u. seine »Kanons u. Fugen«, (Phil. Diss. Lpz.). 1929;S.45) praktisch jeden über die wenigen Themenähnlichkeiten hinausgehenden kompositorischen Zusammenhang von Bach und Klengel. Denn ähnlich wie z.B. Reicha in seinen 36 Fugen verfügt auch Klengel über alle, aus der klassischen Sonate her bekannten, Mittel der Durchführung, Steigerung und Herausarbeitung von Höhepunkten, für die es in Bachs Fugen kaum Entsprechungen gibt. Ebenso finden sich durchaus wirkungsvolle harmonische Wendungen, wie sie zu Klengels Zeit eher von Schubert oder eben von Clementi kaum aber von Bach her bekannt waren. Clementis Gradus ad Parnassum ist auch in vielem Figurenwerk gerade spieltechnisch anspruchsvollerer Kanons und Fugen eher wieder zu erkennen als irgendeine Spielfuge Bachs.
Anders als bei den 36 Fugen des Beethoven Zeitgenossen Reicha finden sich bei Klengel aber nun auch eine Reihe dezidiert romantischer Züge. Dazu gehören nicht nur wiederholt weit gezogene gesangliche melodiöse Bögen oder die immer wieder erkennbare Tendenz, den strengen polyphonen Satz in die äußere Gestalt eingängiger Charakterstücke zu bringen. Es finden sich u.a. auch Passagen, die zumindest dem heutigen Hörer geradezu als Reminiszenz an ein Chopinsches Impromptu erscheinen, wie die brllliante Schlusssteigerung und der versonnene Ausklang des c#-moll Canons im ersten Band. Wie Chopin in seinen Variationen op.2 für Klavier und Orchester greift übrigens auch Klengel in der A-Dur Fuge des ersten Bandes auch auf Mozarts Arie "La ci darem la mano" zurück. Selbst wenn man sich bei Klengel auch in anderen Themen zuweilen an Gedanken Mozarts erinnert fühlt, verarbeitet Klengel dies in seinem Kontrapunkt teilweise nicht weniger romantisch als der von ihm so geschätzte Chopin. Wieder anderes dagegen erscheint durchaus stilistisch Mendelssohn verwandt, der ganz ähnlich wie Klengel souverän Errungenschaften der barocken, und der klassischen Tradition in seine durchaus romantischen Musik einbringen kann.
Es ist also ein ausgesprochen oberflächliches Missverständnis von der polyphonen Struktur der Musik gleich auf ein unselbstständig konservatives Bachepigonentum zu schließen. Klengels Kanons und Fugen sind tatsächlich Bachs Wohltemperiertem Klavier musikhistorisch wohl kaum näher, als der Kirchenmusiker Bach dem hundert Jahre älteren Kirchenmusiker Heinrich Schütz. Was Klengel aber sehr wohl mit Bach verbindet, ist die Fähigkeit überhaupt ein Werk dieses Anspruchs in diesem Umfang zu komponieren: "Ausgemacht ist, daß jetzt kein Anderer so etwas vollbringen könnte; dazu gehört eben außer dem Talent und dem savoir faire auch die Passion, das gänzliche Versenken in diese Art und Weise .... " (Brief von Moritz Hauptmanns an Hauser v. 27. 6. 1835)
Dass Klengel seinen Anspruch nicht an einem Vorbild - auch nicht an Bach - ­gemessen hat, sondern allein an seinen eigenen Möglichkeiten, wird spätestens da deutlich, wo er über die Anforderungen, denen sich Bach stellt, noch deutlich hinaus geht. Dafür gibt es verschiedene Beispiele. Schon die monumentale c-moll-Fuge in Klengels ersten Band lässt erkennen, wie Klengel formale Ansprüche stellt, die über das meisterliche Handwerk Bachs hinaus gehen. Die Fuge hat einen Umfang, der Bach mit großer Wahrscheinlichkeit die Konzeption als Doppelfuge nahegelegt hätte. Tatsächlich ist auch Klengels Fuge ganz ähnlich in zwei Abschnitte gegliedert, deren zweiter mit seinem kontrastierenden Material wie in einer Doppelfuge einen deutlichen formalen Abschnitt markiert.

 

Klengel aber gewinnt eben dieses kontrastierende Material tatsächlich aus der Diminution also Beschleunigung des ursprünglichen Themas und wie in einer Doppelfuge konfrontierte er nach der Exposition und Durchführung des beschleunigten Themas dann auch mit der langsameren Form des Beginnes, das folglich nun aber als Augumentation des zweiten Themas erscheint. Er komponiert also praktisch formal eine Doppelfuge mit allen dazugehörigen Kontrasten und späteren Kombinationen, entwickelt aber das alles vollständig aus einem einzigen Thema. Dieser Gedanke ein Maximum an Vielfalt auf einen einzigen möglichst allem zugrunde liegenden konzentrierten Grundgedanken zu beziehen, ist eben weniger ein barockes Formkonzept. Es ist vielmehr eine durchaus mit den Gedankenspielen des romantischen Idealismus korrespondierende hoch romantische Formkonzeption, die wenig später gerade die radikalsten Formkonzepte Liszts etwa in seiner h-Moll Sonate oder symphonischen Dichtungen kennzeichnen wird. Das schon in der Grundstruktur angelegte deutlichste Beispiel von Klengels weit über Bach hinausgehenden Anspruch ist Klengels Entscheidung, anstelle von satztechnisch eher freien "Präludien" jeder Fuge nun einen strengen Kanon voranzustellen. Klengel scheint zwar die tatsächlich konsequent durchgeführte Strenge dieser Satzform wiederholt etwas hinter der wirkungsvollen Verwendung brillanter Figurationen oder der äußeren Erscheinung eines romantischen Charakterstückes zu verbergen. Tatsächlich stellen aber die oft dreistimmigen verschiedentlich sogar vierstimmigen langen Kanons nun die bei weitem höchsten Anforderungen an den Tonsatz dar. Dem gegenüber erscheinen die nachfolgenden Fugen geradezu als eher freiere Stücke, obgleich auch sie tatsächlich den Fugen Bachs in ihrer satztechnischen Dichte nicht nachstehen. Während Bach sich in seinen "Rätselkanons" wie z.B. den 14 Kanons über die Fundamentalnoten der Goldbergvariationen BWV 1087 den zur der höchsten konstruktiven Verdichtung einer überschauberen überschaubaren aber möglichst vielfältig kombinierbaren Tonfolge provoziert sah, komponiert Klengel Kanons vom Umfang ganzer Präludien oder Fugen die in sich zugleich alle Formaspekte des romantischen Klavierstückes aufnehmen. Mehrfach erfordern Klengels dichte Kanons zur angemessenen Darstellung auch für den Klavierspieler regelrechte Partituren mit bis vier oder zu fünf eigenständigen Systemen wie bei den vierstimmigen Kanons Bd.1 C-Dur und G-Dur oder dem vierstimmigen Doppelkanons Bd.1 in Bb-Dur bzw. Bd.2 cis-moll sowie den dreistimmigen Kanons mit einer freien Nebenstimmen Ab-Dur Bd.2 oder zwei Nebenstimmen c-moll Bd.2. Die jeweils zugrunde liegenden Kanonstrukturen werden von Klengel für jedes Stück ausdrücklich in der Partitur vermerkt. Klengels 72 Kanons gehen sowohl in ihrem satztechnischen Anspruch als auch dem Umfang und der Menge nach, über die meisten historischen Beispiele klar hinaus. Es sind auch eben diese Kanons die nach der Publikation der Avantcoureurs seinen Ruf als Kontrapunktiker begründeten und es sind auch die Kanons, die in seinen Kanons und Fugen die größte Achtung hervorriefen. Es ist wohl allerdings etwas historischer Abstand hilfreich, um unbesehens der satztechnischen Herausforderung zu erkennen und zu würdigen, welche ganz eigenständigen hochromantischen Meisterwerke sich auch unter den Fugen befinden wie die z.B. die Fugen in g-moll, A-Dur, h-moll im ersten Band oder c-moll, g#-moll im zweiten. Eine lebendige Interpretation von Klengels Kanons und Fugen könnte dazu beitragen, zu erkennen, dass Polyphonie nicht nur ein persönlicher Charakterzug des großen Johann Sebastian Bachs ist, sondern eine ausgesprochen anspruchsvolle Satztechnik, der sich die besten Komponisten auch der Jahrhunderte vor und nach Bach mit eigenen immer wieder ansprechenden Ergebnissen zuwandten. Klengels Ergebnisse zumindest gehören sicher zu jenen, die es wert sind neu gewürdigt zu werden.